Unsere Rezensentin Michelle Szellas hat einen Lese- und Buch-Geschenk-Tipp für alle Musikfans:
Musik-Kritik mal anders
Ich liebe Listen! Ich liebe Auflistungen à la „Die 50 besten Songs übers Schlussmachen“ oder „Die 10 besten Filme für einen kuscheligen Sonntag“. Und dieses Buch stellt keine Ausnahme dar.
Der Autor hat die 52 ausgewählten Songs auch noch nach Kategorien wie „Ich versuche, tiefsinnig und rührend zu sein, aber bin da echt schlecht drin“ oder „Sie hasst mich, ich hasse sie“ unterteilt.
Über jeden Song und dessen Interpreten gibt es zunächst einige Fakten und Hintergründe. Dann geht Tom Reynolds auf den Text genauer ein und versucht herauszufinden, was genau diesen Song so deprimierend macht. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Melodie und Traurigkeit, aber Reynolds geht auch darauf ein, wie die Texte oder der Gesang Einfluss auf die Traurigkeit des Liedes nehmen.
Auf den etwas mehr als 250 Seiten geht der Autor mit bissigem, schwarzem Humor mit jedem dieser Musikstücke hart ins Gericht und entwirft mit seinen Worten so eindrückliche Bilder, dass ich – selbst wenn ich dieses Buch im glücklichen Zustand lese – sofort von einer tiefen Traurigkeit erfasst werde.
Falls du mal zu gute Laune hast ...
Die Genres der ausgewählten Stücke sind ganz unterschiedlich, von Heavy Metal zu Rock über Folk bis hin zu Progrock.
An den Songs selber wird kaum ein gutes Haar gelassen. Auch das macht das Buch so unterhaltsam – selbst wenn es sich um eigene Lieblingssongs handelt (bei mir „Love Will Tear Us Apart“ von „Joy Division“, „The River“ von Bruce Springsteen, „The End“ von „The Doors“ oder „One“ von „Metallica“).
Kurzweilig geschrieben und dank der kurzen Abschnitte auch häppchenweise einfach zu lesen, hat mir dieses Buch schon oft die Zeit vertrieben und mich dazu inspiriert, in den einen oder anderen Song reinzuhören und mich von ihm deprimieren zu lassen.
Beispiel: „The End“
Ich gebe zu, dass es nicht sehr schwierig ist, diesen Song deprimierend zu finden - insbesondere mit der Hintergrundstory, dass der Sänger von „The Doors“ diesen Titel als letztes Lied vor seinem Ableben hörte. Tom Reynolds gibt auch noch den Hinweis, dass die Instrumente tiefer als sonst gestimmt sind, was zu einer düsteren Stimmung beiträgt - und der Sänger zum Zeitpunkt der Aufnahme auf LSD war und mit unsichtbaren Fledermäusen kämpfte.
Zugegeben, der Text ist recht wirr oder entspringt einfach einer Art Lyrik, die nur Jim Morrison selbst verstand (oder auch nicht), ist aber auf jeden Fall bedrohlich, geht es doch unter anderem ums Töten der eigenen Familie. Der fast 12-minütige Song hat meiner Meinung nach etwas sehr hypnotisches an sich und zieht mich in seinen Bann. Das könnte unter anderem an der stetigen Wiederholung des d-Moll-Akkords liegen, denn andere Akkorde kommen in diesem Lied gar nicht vor. Oder aber an der eindringlichen Stimme von Jim Morrison, die den einigermaßen zusammenhangslosen Text mal intensiv aus sich herausbrüllt, mal flüstert und ihm somit Bedeutung über die Worte hinaus verleiht.
Der Autor vergleicht den Song mit einem Rorschachtest, bei dem natürlich jeder weiß, dass man nur auf einen großen schwarzen Fleck starrt, aber jeder doch etwas anderes sieht.
Tatsächlich stelle ich mir beim Hören des Songs immer vor, wie Jim Morrison, beim letzten Stück der Platte angelangt, einen großen Schluck aus seiner Whiskey-Flasche nimmt, sich mitsamt Klamotten in die Badewanne legt, die Pulsadern aufschneidet und während der 12 Minuten langsam zusieht, wie sein Leben aus ihm herausrinnt, bis er am Ende des Songs tot ist. In meiner Vorstellung ist er dabei übrigens noch der sexy Bühnenprophet mit offenem weißen Hemd und Lederhose und nicht der aufgedunsene, bärtige Hippie, der er am Ende seines Lebens war. Meine Vorstellung weicht höchstwahrscheinlich sehr von den tatsächlichen Geschehnissen rund um seinen Tod ab, aber vielleicht unterstreicht es noch einmal die deprimierende Wirkung dieses Werks.
Dass dieses Lied auf der Liste der deprimierendsten Songs steht, ist für mich sehr nachvollziehbar. Außerdem benutzte Francis Coppola ihn auch noch in „Apocalpyse Now“, was wirklich nicht dazu beiträgt, den Song weniger deprimierend zu machen.
Die Songs
- The Doors - The End: https://www.youtube.com/watch?v=BXqPNlng6uI&list=RDBXqPNlng6uI&start_radio=1
- Joy Division - Love Will Tear Us Apart: https://www.youtube.com/watch?v=zuuObGsB0No&list=RDzuuObGsB0No&start_radio=1
- Evanscence - My Immortal: https://www.youtube.com/watch?v=5anLPw0Efmo&list=RD5anLPw0Efmo&start_radio=1
- Bonnie Tyler - Total Eclipse of the Heart: https://www.youtube.com/watch?v=lcOxhH8N3Bo&list=RDlcOxhH8N3Bo&start_radio=1
- Metallica - One: https://www.youtube.com/watch?v=WM8bTdBs-cw&list=RDWM8bTdBs-cw&start_radio=1
- Billie Holiday - Strange Fruit: https://www.youtube.com/watch?v=-DGY9HvChXk&list=RD-DGY9HvChXk&start_radio=1
- Adele - Rolling In The Deep: https://www.youtube.com/watch?v=rYEDA3JcQqw&list=RDrYEDA3JcQqw&start_radio=1
Das Buch
- Reynolds, Tom: I hate myself and want to die: die 52 deprimierendsten Songs aller Zeiten. Illustriert von Stacey Earley, Deutsch von Ilja Braun. Schwarzkopf & Schwarzkopf 2008.
Weitere Bücher von Tom Reynolds
- Touch me, I’m sick – the 52 creepiest love songs you’ve ever heard. Chicago Preview PR, 2008.
- Wild Ride – How Outlaw Motorcycle Myth Conquered America. TV Books, 2001.
Michelle Szellas
30.06.2025, aktualisiert am 09.07.2025
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