Michelle Szellas stellt das zweite Buch des Sängers und Songschreibers der deutschen Indie-Rock-Band „Tocotronic“ vor. Es ist das Tagebuch Dirk von Lowtzows aus dem Corona-Jahr 2020.
Die schönste Zeit meines Lebens
Dirk von Lowtzow berichtet von Langeweile, Angst, dem Zeit-Totschlagen. Auch von den kleinen Freuden, die er in seinem scheinbar auf Stillstand gestellten Alltag erlebt. Beispielsweise wenn er bei seinem täglichen Spaziergang Thorsten Nagelschmidt trifft, von dem er sogleich dessen neues Buch geschenkt bekommt. Oder einen Brief der Schriftstellerin Ilma Rakusa bekommt: „Ein Brief von Ilma Rakusa kann einen verkorksten Tag retten.“
Er nimmt den Leser mit in seine Träume, erzählt von Wünschen und Hoffnungen und den Momenten der Hoffnungslosigkeit und Lethargie. Meistens beschäftigen sich seine Sehnsüchte damit, wieder einfach so anderen Menschen nahekommen zu dürfen. Er wünscht sich, dass der Stillstand endlich endet, auch um endlich wieder mit seiner Band auftreten zu können.
Das zu dem Zeitpunkt bald erscheinende Album der Band „Nie wieder Krieg“ wird ebenfalls thematisert. Der Leser erfährt, wie von Lowtzow einen Teil der Songtexte dafür geschrieben hat, womit er zufrieden ist und womit eher nicht. Der Autor teilt mit dem Leser, wie die Band zusammenarbeitet und wie sie mit Verschiebungen und Absagen wegen der Pandemie zurechtkommen muss. Die Einträge sind manchmal kleine Abrisse des Tages, manchmal Geschichten oder Gedichte.
Er berichtet von seinen „Dämonen“: wie es sich anfühlt, wenn sie über ihn kommen, ihm Albträume sowie Panikattacken bescheren und ihn in seine Depressionen stürzen. Und dann wieder darüber, wie er als Musiker zum Nichtstun während der Epidemie verdammt ist. Er schreibt von Kunst, Kultur, Büchern und Menschen, die ihn beeindrucken und berühren. Und ich muss gestehen: Mindestens die Hälfte der Namen kenne ich nicht. Aber ich spüre, was sie alle in Dirk von Lowtzow auslösen und bin sofort versucht, mich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Wie man es von den Songtexten von Tocotronic gewohnt ist, kommt von Lowtzow manchmal direkt auf den Punkt, manchmal umschreibt er eigentlich profane Dinge so poetisch, dass sie kaum noch profan zu nennen sind.
Sehr gut gefällt mir der folgende Eintrag: „8. Juni, Berlin. Es ist ein schöner Tag. Nicht zu kalt, nicht zu warm. Der Saugroboter schnurrt wie ein Kätzchen und zieht seine Kreise auf dem Parkett. Um vierzehn Uhr steige ich ins Auto und fahre zu dem schnaufenden Osteopathen, der mir außer der Reihe eine Audienz gewährt hat. Im Spielzeugladen nebenan kaufe ich eine Handpuppe der Firma Monster to go. Wenn man die Monster zu sich nach Hause holt, verlieren sie ihre Macht.“
Ich bekomme jedes Mal beim Lesen des letzten Satzes eine Gänsehaut. Es ist die Art, wie die Beschreibung eines normalen Tages mit einem schwerwiegenden Satz kombiniert wird. Der Satz regt mich jedes Mal zum Nachdenken über meine eigenen Monster an und ob ihre Nähe mir schadet oder ihnen ihre Macht nehmen kann.
Der letzte Eintrag ist der Tag des 50. Geburtstags des Autors und beginnt mit den Worten: „Ich will von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Dreihundertfünfundsechzig Tage voller Glück.“
Die Welt aus der Sicht eines Rockstars
Tatsächlich finde ich nicht, dass das Dirk von Lowtzow gelungen ist. Ich empfinde viele Stellen als traurig und habe das Gefühl, dass auch von Lowtzow oft traurig war.
Mich stört es allerdings nicht, dass die Lektüre nicht nur heiter ist und dass von Lowtzow seine eigene Vorgabe nicht einhält. Ich habe das Gefühl, in seine Haut schlüpfen zu können, seine Gefühle nachzuvollziehen und die Welt mit seinen Augen zu sehen.
Viele seiner Ansichten und Gefühle bezüglich der Pandemie und des Umgangs damit spiegeln meine eigenen wider. Der Stillstand führt zu Lethargie, Ratlosigkeit und Ungewissheit über das eigene Leben. Genauso ergeht es mir auch während der Corona-Zeit. Insgesamt bekomme ich durch die Einblicke in das Seelenleben Dirk von Lowtzows eine neue Perspektive auf die Welt und auch diese spezielle Zeit, die durch so viel Unsicherheit geprägt ist.
Insbesondere gefallen mir sein poetischer Schreibstil und seine interessanten Ansichten zu den unterschiedlichsten Themen sehr gut und ich bin auch häufig selbst berührt von seiner Gefühlswelt, die er dem Leser offenbart.
Das Buch
- Von Lowtzow, Dirk: Ich tauche auf. KiWi, 2023.
Weitere Bücher Dirk von Lowtzows
- Aus dem Dachsbau. KiWi, 2019.
Musik von Tocotronic
- „Pure Vernunft darf niemals siegen“: https://www.youtube.com/watch?v=Xytt5PNC0Wo&list=RDXytt5PNC0Wo&start_radio=1
- „Denn sie wissen, was sie tun“: https://www.youtube.com/watch?v=gPMs4TfTvFQ&list=RDgPMs4TfTvFQ&start_radio=1
- „Aber hier leben, nein danke“: https://www.youtube.com/watch?v=8vVjT8xAoD8&list=RD8vVjT8xAoD8&start_radio=1
- „Ich tauche auf“: https://www.youtube.com/watch?v=r6O9uGmujvU&list=RDr6O9uGmujvU&start_radio=1
- „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“: https://www.youtube.com/watch?v=x7OuynD2y0I&list=RDx7OuynD2y0I&start_radio=1
- „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“: https://www.youtube.com/watch?v=lVub2aQjJvw&list=RDlVub2aQjJvw&start_radio=1
Michelle Szellas
03.07.2025, aktualisiert am 08.08.2025
Fotografin: Janina Stenzel
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