Wie wirkt der Fantasy-Klassiker, wenn man ihn zum zwanzigsten Mal liest? Michelle Szellas beantwortet die Frage in ihrer Rezension.
Der Klassiker in Sachen moderne Artussagen
Das Buch ist wahrscheinlich jedem ein Begriff. Laut einer kleinen Umfrage in meinem Freundeskreis ist es eines der Bücher, das sich in jedem elterlichen Haushalt finden lässt. Aber auch eines der Bücher, die man ein bisschen zu jung gelesen hat.
Der Roman umfasst nicht nur viel Zeit, Personen und Ereignisse, sondern zeigt auch verschiedene Perspektiven auf diese auf. Hauptsächliche Ich-Erzählerin ist Morgaine, die zunächst zur Priesterin auf der Insel Avalon ausgebildet wird und später deren Herrscherin wird. Man verfolgt ihren Weg vom Kind bis zur alten Frau.
Avalon ist eine uralte Insel, die durch Nebel für die Außenwelt verborgen ist. Nur die, die den Weg kennen, können sie betreten. Wegen des immer größer werdenden Einflusses des Christentums und der Verdrängung der alten Bräuche entrückt sie immer weiter der realen Welt.
Die zunächst amtierende Herrin vom See, Viviane, setzt alles daran, um den Einfluss von Avalon und des alten Glaubens zu sichern sowie dem Einzug der Christen Einhalt zu gebieten. Dabei geht sie häufig skrupellos vor und scheut sich nicht davor, selbst ihre Nichte Morgaine wie eine Schachfigur einzusetzen, um die Macht von Avalon zu stützen.
Im Zuge eines alten Rituals sorgt Viviane dafür, dass der junge Artus – der ihrer Meinung nach König werden soll, um so den alten Glauben zu stärken – und Morgaine, die Halbgeschwister sind, miteinander schlafen und ein Kind zeugen.
Als Morgaine merkt, was passiert ist und wer dafür verantwortlich ist, überwirft sie sich mit Viviane und verlässt die Insel. Das ist ein schwerer Schlag für Viviane, die gehofft hat, dass Morgaine ihre Nachfolge antritt.
Feministische Lesart der Artus-Sage
Die Geschichte von Artus, Gwenhywfer und Lancelot ist allgemein bekannt, aber dieses Buch gibt noch einmal einen anderen Einblick in die alte Sage, verknüpft sie mit anderen mythischen Elementen und verpasst ihr durch die Perspektive der starken Morgaine einen feministischen Blickwinkel und legt den Fokus auf die weiblichen Figuren und ihren Einfluss anstatt auf König Artus und seine Ritter.
Die Artus-Sage an sich hat schon alle Elemente, die eine gute Story braucht: starke Charaktere, eine interessante Geschichte, Siege, Niederlagen, Intrigen, Liebe und Sex. Das gilt auch für die „Nebel von Avalon“. König Artus ist hier mehr oder weniger eine Nebenrolle dargestellt, dafür erfährt der Leser viele bereits bekannte Geschichten aus einer anderen Perspektive. So wird beispielsweise die Übergabe des berühmten Schwerts Excalibur nicht aus der Perspektive von Artus erzählt, sondern von der der Herrin am See, was dieser Szene noch eine andere Facette hinzufügt.
Mir gefällt besonders die weibliche Perspektive auf die Geschichte. Morgaines Charakter ist mit einer Tiefe und Komplexität beschrieben, sodass ich mich gut in sie hereinversetzen kann. Ihre Emotionen von Wut, Eifersucht, manchmal Geltungsdrang und Verantwortungsbewusstsein, die sich einen ständigen Kampf liefern, sind gut nachzuvollziehen und hervorragend dargestellt.
Die Mischung aus historischem Roman, Sage, Religion und Liebesroman überzeugt mich vollkommen. Ich lasse mich jedes Mal gerne wieder in die Geschichte entführen und bin immer wieder begeistert (obwohl ich das Buch mindestens zwanzig Mal gelesen habe). Vor allem liebe ich das Ende, das überhaupt nicht einem klassischem Happy End entspricht, sondern eher einen realistischen Ausgang aus einer schwierigen und komplexen Situation aufzeigt.
Tatsächlich ist dieses Buch der Auftakt zu einer ganzen Reihe, die insgesamt vier Bände umfasst, von denen aber keiner an den Erfolg des Auftaktes anknüpfen kann. In meinen frühen Zwanzigern lese ich auch die restlichen Bücher, aber sie können mich nicht ansatzweise so begeistern wie „Die Nebel von Avalon“, hauptsächlich da ich das Gefühl habe, dass die Geschichte damit bereits auserzählt ist und keiner Fortsetzung bedarf.
Das Buch
- Zimmer Bradley, Marion: Die Nebel von Avalon (Originaltitel: The Mists of Avalon). Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Fischer Taschenbuch, 1987.
Weitere Bände der Reihe
- Zimmer Bradley, Marion: Die Wälder von Albion (Originaltitel: The Frest House). Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Fischer Taschenbuch, 1993.
- Zimmer Bradley, Marion und Diana L. Paxson: Die Herrin von Avalon (Originaltitel: Lady of Avalon). Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Fischer Taschenbuch, 1996.
- Zimmer Bradley, Marion und Diana L. Paxson: Die Priesterin von Avalon (Originaltitel: Priestess of Avalon). Aus dem Englischen übersetzt von Marion Balkenhol. Fischer Taschenbuch, 2000.
Michelle Szellas
05.08.2025
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