Welche Vor- und Nachteile haben die Freiberuflichkeit und die Festanstellung für einen Lektor oder einen anderen Textprofi?
Evgenij Unker ist seit 15 Jahren selbständig als Textprofi und Ausbilder von freiberuflichen Lektoren. Er nennt im Folgenden die Pros und Contras und widerlegt einige verbreitete Irrtümer zum Thema Freiberuflichkeit.
Startzeitpunkt und Anlaufphase
Für eine Festanstellung musst du dutzende Stellenanzeigen sichten, Bewerbungen verschicken, auf die Antwort warten, stundenlang Bewerbungsgespräche führen und einen zehnseitigen schriftlichen Vertrag lesen und unterschreiben.
Dein Arbeitgeber muss dich als Arbeitnehmen anmelden (beim Finanzamt und den Sozialversicherungen). All das dauert im besten Fall Wochen, im schlimmsten Monate.
Einen Arbeitsgeber kostet ein falsch eingestellter Mitarbeiter einen fünfstelligen Betrag. Dich kostet ein falsch gewählter Arbeitgeber Wochen oder Monate deiner Lebenszeit. Das Risiko ist für beide Seiten groß.
Und es gibt relativ wenige ausgeschriebene feste Stellen für Lektoren, Redakteure, Texter, Übersetzer und andere Textprofis. Auf eine Stellenanzeige kommen als hunderte Bewerber – die Konkurrenz ist enorm.
Als Freiberufler kannst du sofort in wenigen Minuten starten. Ein Handschlag oder eine E-Mail reicht und schon kannst du eine Korrektur für jemanden übernehmen und das Honorar in bar oder per Banküberweisung erhalten.
Du musst deine Tätigkeit nicht vorher dem Finanzamt oder den Sozialversicherungen melden. Du hast ganz offiziell laut Gesetz noch einen ganzen Monat Zeit, um dich nachträglich beim Finanzamt anzumelden. In der Praxis ist auch eine spätere Anmeldung kein Problem – solange du in deiner Steuererklärung alle deine Einnahmen korrekt versteuerst.
Bei einem einzelnen kleinen Textauftrag ist das Risiko für alle Beteiligten gering. Dein Auftraggeber riskiert vielleicht nur ein paar Euros und du vielleicht nur ein paar Stunden. Beide – du und dein Arbeitgeber – sind also schneller bereit, sich auf den Deal einzulassen.
Auf dem freiberuflichen Markt ist buchstäbdlich jeder potenzieller Kunde eines Lektors: ob Student oder Rentner, ob Autor oder Arbeitsloser. Wir alle schreiben Abschlussarbeiten, Bewerbungen oder Briefe an Behörden. Oft bist du in der Situation der einzige Anbieter überhaupt. Zudem ist die Nachfrage nach einzelnen Textprojekten größer als nach festangestellten Lektoren. Die freiberufliche Konkurrenz ist geringer.
Qualifikationsanforderungen
Die Nachfrage nach Festanstellungen ist so groß, dass die Stellenausschreibungen für Lektoren und Textprofis sich gegenseitig bei den Anforderungen überbieten – um weniger Bewerbungen zu erhalten. Nur drei Beispiele:
- Eine häufige Voraussetzung ist ein sprach- oder literaturwissenschaftliches, geisteswissenschaftliches oder ein anderes Studium.
- Oft wird die Kenntnis mehrer Sprachen verlangt.
- Zahlreiche un- oder schlecht bezahlte Praktika und Volontariate vor einer Festanstellung sind Standard.
Ich bin seit 15 Jahren selbständig. In all der Zeit wurde ich vielleicht insgesamt dreimal nach meinem Diplom gefragt. Gut möglich, dass ich die entsprechenden Aufträge ohne das Diplom nicht bekommen hätte. Dann hätte ich eben andere bekommen. Siehe auch das Kapitel weiter unten zum Thema Sicherheit.
Die Hemmschwelle für eine projektweise Zusammenarbeit ist geringer. Entsprechend geringer sind die Anforderungen bei deinen ersten Projekten. Du benötigst weder ein Studium noch musst du unbedingt mehrere Sprache können oder jahrelange Praktika machen.
Wenn du meine Ausbildung zum freiberuflichen Lektor machst und meinen Tipps folgst, startest du mit einfachen Kunden mit nicht ganz so hohen Ansprüchen. Das können Studenten, Nicht-Muttersprachler, Kleingewerbetreibende sein.
Alle diese Menschen sind glücklich, wenn ein sprachbegabter Muttersprachler über ihren Text liest. Sie haben nicht den Anspruch, dass jedes Komma an der richtigen Stelle sitzt. So kommst du schnell in den Beruf rein. Mit deiner Erfahrung wachsen auch die Ansprüche deiner Kunden und deine Honorare.
Zeitliche Flexibilität
Ich arbeite gerne abends. Das ist die kreativste Zeit für mich. Das kann ich selbst bestimmen.
Ich kann meine Arbeitszeiten vom Wetter abhängig machen. Wenn die Sonne scheint, bin ich draußen und gehe joggen. Wenn es regnet, sitze ich im Warmen und Trockenen und lese was. Und lasse mich dafür bezahlen.
Ortsunabhängigkeit
Die meisten Arbeitgeber verlangen – zumindest gelegentliche – Anwesenheit vor Ort. Dadurch entstehen Pendelzeiten und -kosten.
Das Büro auf deiner festen Arbeit ist vermutlich nicht so eingerichtet, wie es deinem Geschmack entspricht. Dort triffst du womöglich Menschen, denen du sonst lieber aus dem Weg gehen würdest.
Für meine Arbeit als freier Lektor benötige ich neben meinem Wissen und meiner Erfahrung nur ein Notebook und eine stabile Internetverbindung.
Wenn dies gegeben ist, bekommt kein Kunde mit, wo ich mich gerade physisch aufhalte. Ich kann zu Hause arbeiten, ich kann im Homeoffice arbeiten.
Lektorieren kann ich auch unterwegs im Hotel. Ich kann mich in einer meiner drei Firmenfilialen aufhalten oder auf Teneriffa sein.
Das empfinde ich als äußerst luxuriös: Ich gehe einer spannenden Tätigkeit nach und bin dabei zeitlich und örtlich komplett flexibel.
Ich muss es auch nicht mit meinem Chef absprechen, sondern entscheide immer selbst.
Selbstbestimmung
Als Angestellter bist du schon rein juristisch weisungsgebunden. In der Regel bestimmt dein Arbeitgeber über deine Einsatzzeiten und deinen Arbeitsort. Er gibt Ziele, Arbeitsmittel und Methoden vor.
Der Arbeitgeber entscheidet, mit wem du zusammenarbeitest: über deine Kollegen und deine Kunden.
Selbst wenn dein Arbeitgeber einen demokratischen Führungsstil praktiziert, musst du alle deine Entscheidungen im Voraus - teilweise Monate oder Jahre im Voraus – mit ihm absprechen.
Über die Selbstbestimmung über den Ort und die Zeit deiner Tätigkeit als freier Lektor haben wir eben schon gesprochen.
Ich entscheide darüber hinaus auch noch selbst, wie ich arbeite, mit wem ich arbeite, mit welchen Methoden und an welchen Themen und Zielen ich arbeite.
Dadurch fühlt sich Arbeit nicht mehr wie Arbeit an, sondern mehr wie eine Berufung.
Ich lenke meine Energie auf die Dinge, die mir wichtig sind. Nicht auf Dinge, die irgendein Bürokrat in der Firma erfunden hat, der noch nie selbst ein Komma korrekt gesetzt hat.
Ich kann mich auch spontan für oder gegen bestimmte Projekte oder Kunden entscheiden. Als Einzellektor kannst du dich innerhalb weniger Stunden komplett neu ausrichen – thematisch, methodisch, geografisch usw.
Entwicklungsmöglichkeiten
Menschen in Festanstellung stagnieren oft. Sie merken, dass sie ihre Ideen nicht so einbringen können, wie sie es sich wünschen und wie es der Sache guttun würde. Und so machen sie recht bald schon nur noch Dienst nach Vorschrift.
Das ist frustrierend. Wenn wir als junge Menschen voller Elan unsere erste richtige Arbeitsstelle antreten, wollen wir noch die Welt verbessern.
Als Freiberufler bist du selbst dein eigener Chef. Du kannst machen und lassen, was du willst. Du kannst endlich das angehen, wass dir immer schon wichtig war.
Bei mir ist es der Wunsch, zur Verständigung der Menschen beizutragen.
Du weißt als Selbständiger: Wenn es (noch) nicht so läuft, wie gedacht, bist einzig und allein du selbst dafür verantwortlich.
Und das führt zu einer enormen persönlichen und intellektuellen Entwicklung.
Als Selbständiger habe ich schon 250.000 Euro für Fortbildungen ausgegeben. Ich halte rund um die Uhr die Augen offen und lerne dazu: als Mensch, als Lektor, als Selbständiger.
Das macht Spaß! Und das fühlt sich sinnvoll an!
Verdienstmöglichkeiten
Das Durchschnittgehalt in Deutschland von Angestellten lag 2023 laut der offiziellen Statistik bei 4.323 Euro brutto, also etwas über 50.000 Euro im Jahr.
Als selbständiger Textprofi verdiene ich seit Jahren sechsstellig im Jahr. Die Tendenz ist steigend. Und das als Nicht-Muttersprachler!
Das ist auch logisch: Damit deine Beschäftigung sich für deinen Arbeitgeber überhaupt lohnt, musst du etwa das Vierfache von dem erwirtschaften, was du an Lohnzahlungen und Lohnnebenkosten verursachst.
Selbst wenn wir annehmen, dass dein Arbeitgeber die Synergieeffekte eures Teams gut nutzen kann und du als Einzelner vielleicht insgesamt nicht – zumindest nicht sofort – an die lukrativsten Aufträge herankommst, kannst du immer noch im Schnitt als Freiberufler doppelt so viel verdienen wie ein Angestellter.
Sicherheit
Der wohl verbreitetste Irrtum über die Festanstellung: Viele glauben, sie sei sicherer als die Freiberuflichkeit.
Beantworte dir selbst dazu die Frage: Wenn du festangestellt bist und es der Firma nicht gut geht, wer sitzt zuerst auf der Straße – du oder der Firmeninhaber?
Als Angestellter bist du von einer einzigen Firma und womöglich auch noch von einem einzigen Vorgesetzten abhängig. Wenn es der Firma oder deinem Chef nicht gut geht, hast du Pech und stehst im Regen.
Als Freiberufler in der Textbranche arbeitest du auf Augenhöhe mit dutzenden Auftraggebern: Firmen, Behörden, Privatmenschen, Wohltätigkeitsorganisationen etc.
Wenn ein Kunde wegfällt, ist das ärgerlich. Aber das ändert nichts prinzipiell. Du musst weder deinen Wohnort noch deine Arbeitsweise ändern.
Du findest einfach einen anderen Kunden. Und das geht schneller, als eine neue Anstellung zu finden. Siehe oben.
Damit hast du als Freiberufler eine viel höhere Sicherheit, was die Planbarkeit deiner Arbeit angeht.
Fazit – Festanstellung oder Freiberuflichkeit?
Natürlich ist es immer eine individuelle Entscheidung, die von deiner Prägung, deinem Umfeld, deine frühkindlichen Erfahrungen und auch deiner aktuellen Situation abhängt.
Mein Fazit ist jedenfalls eindeutig:
Als freiberuflicher Lektor oder Textprofi bist du zeitlich und geografisch flexibler, arbeitest selbstbestimmter und verdienst mehr als in einer Festanstellung. Du kannst schneller starten und bist unabhängiger. Dadurch hast du eine insgesamt höhere Sicherheit für deinen beruflichen Erfolg. Du bist dein eigener Herr und hast deinen Erfolg selbst in der Hand. Begrenzt werden deine Entwicklungsmöglichkeiten nur durch deine Fantasie.
Die Festanstellung hat den illusorischen Vorteil einer besseren Planbarkeit. Die Planbarkeit bezieht sich höchstens auf sehr kurze Zeiträume von wenigen Monaten. Die vermeintliche Sicherheit entpuppt sich aber beim näheren Hinsehen und bezogen auf längere Zeiträume als Selbstbetrug. Denn du bist abhängig von nur einer Firma oder gar nur einem Menschen. Du bist weisungsgebunden, was die Bedingungen und Ziele deiner Arbeit angeht.
Evgenij Unker, 19.01.2025